Die Mathematik bringt’s ans Licht
In der letzten Ausgabe des „Radler am See“ berichteten wir über die umfangreichen Seitenabstandsmessungen mit dem OpenBikeSensor (OBS) bei Überholvorgängen von Kraftfahrzeugen. Die Ergebnisse veröffentlichten wir in einem Bericht.
In der letzten Ausgabe des „Radler am See“ berichteten wir über die umfangreichen Seitenabstandsmessungen mit dem OpenBikeSensor (OBS) bei Überholvorgängen von Kraftfahrzeugen. Die Ergebnisse veröffentlichten wir in einem Bericht.
Die Ergebnisse der Messfahrten waren ernüchternd, denn eine große Mehrheit der Autofahrer hält den vorgeschriebenen Seitenabstand zu Radfahrern nicht ein. Warum handeln Autofahrer so rücksichtslos Fahrradfahrern gegenüber? Gibt es Einflüsse der Verkehrsführung oder des Straßenverlaufs? Haben möglicherweise Schutzstreifen einen Einfluss?
Die Hauptkomponentenanalyse
Wir fragten fahrradaffine Mathematik-Experten, ob aus den Messdaten Zusammenhänge berechnet werden können. Sie wendeten die „Hauptkomponentenanalyse“ (auch PCA = Principal Component Analysis genannt) an, eine statistische Methode, welche u.a. Streuungen von Variablen bewertet und Korrelationen zwischen den Variablen aufzeigt. Die PCA kommt auch in Algorithmen der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz, um z.B. Trainingsdatensätze ohne relevanten Informationsverlust zu vereinfachen.
Nachvollziehbare Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge anzuzeigen ist eine Grundeigenschaft der PCA, sie gibt gleichzeitig einen Hinweis auf die Größe der Korrelation und deckt auch bisher nicht erkannte Korrelationen auf. Dies war unser Ziel.
In der PCA wurden folgende Parameter auf Korrelationen untersucht:
- Gemessener Seitenabstand in Meter
- Zulässige Geschwindigkeit in km/h
- Schutzstreifen vorhanden ja/nein
- Fahrbahnbreite in Meter
- Kfz-Verkehrsstärke DTV (durchschnittlicher täglicher Verkehr)
- Kfz-Randparken ja/einseitig/nein
- Topographie eben/Steigung
Nicht für alle Straßen der Messfahrten lagen diese sieben Parameter vollständig vor. Deshalb reduzierten wir die ursprünglich 3.643 auf 1.710 Messungen folgender Straßen:
- Friedrichshafen: Charlottenstraße, Eckenerstraße, Eugenstraße, Hauptstraße, Löwentaler Straße, Markdorfer Straße Lipbach, Schnetzenhauser Straße, Windhager Straße
- Markdorf: Bernhardstraße, Talstraße innerorts
- Meckenbeuren: Brochenzeller-/Inselstraße, Allmand-/Kehlener Straße außerorts
- Tettnang: Bachstraße, Bahnhofstraße, Kirchstraße, Lindauer Straße, Loretostraße, Prinz-Eugen-Straße innerorts, K7722 Prinz-Eugen-Straße außerorts, Wangener Straße innerorts und außerorts, K7725 Pfingstweider Straße außerorts, B 467 alt außerorts
- Überlingen: Frohsinnstraße, Hochbildstraße, K7786 Überlingen-Bonndorf
Ergebnis 1
Eine zentrale Fragestellung war: Gibt es einen Einfluss von Schutzstreifen auf den Seitenabstand beim Überholen? Hierzu zeigte die PCA zunächst den trivialen Zusammenhang auf, dass Schutzstreifen nur bei großen Fahrbahnbreiten vorhanden waren, denn sie sind ja erst ab Fahrbahnbreiten von ≥ 7,0 m zulässig. Tatsächlich waren auf allen breiten Innerortsstraßen, wo unsere Messfahrten stattfanden, Schutzstreifen vorhanden. Gleichzeitig korrelierte eine große Fahrbahnbreite mit einem hohen DTV, da es sich bei breiten Straßen meist um Hauptverkehrsstraßen handelt. Dieses Wissen ist wichtig, um ein zentrales Ergebnis der PCA richtig zu interpretieren:
Der Seitenabstand ist bei großen Fahrbahnbreiten (und folglich bei Schutzstreifen) und bei hohem DTV geringer als bei schmalen Fahrbahnen und wenig Kfz-Verkehr. Als Erklärung ist naheliegend, dass eine große Fahrbahnbreite Autofahrer eher zum Überholen von Radfahrern trotz Gegenverkehr verleitet, was zu geringeren Seitenabständen führt. Gleichzeitig verleitet der höhere DTV einer Hauptverkehrsstraße Autofahrer offensichtlich dazu, Radfahrer eng zu überholen, da sich seltener eine Lücke im Gegenverkehr ergibt.
Anmerkung: Die PCA kann nicht errechnen, ob ein und dieselbe Straße mit und ohne Schutzstreifen unterschiedliche Überholabstände ergeben hätte! Hierfür wären Vergleichsmessungen mit und ohne Schutzstreifen erforderlich.
Ergebnis 2
Die PCA zeigte eine Tendenz, dass der Seitenabstand bei niedrigeren Geschwindigkeiten geringer ist als bei hohen Geschwindigkeiten. Dies kann so interpretiert werden, dass Autofahrer die Gefahren eines Überholvorgangs bei niedrigeren Geschwindigkeiten geringer einschätzen als bei hohen Geschwindigkeiten.
Ergebnis 3
Eine interessante Korrelation zeigte die PCA bei Straßen mit längs parkenden Kfz am Straßenrand: Der Überholabstand war mit Randparken größer als ohne.
Eine Interpretation könnte sein, dass die OBS-Messfahrer bei seitlichen Parkreihen aus Sicherheitsgründen (Autotür) einen größeren Abstand zu den parkenden Kfz halten als an einem Fahrbahnrand direkt zum Bordstein. Durch den größeren Abstand zu den parkenden Kfz wird der Verkehrsraum links des Radfahrers enger, was das Überholen für Kfz erschwert, weil nur ohne Gegenverkehr überholt werden kann. Als Fazit kann man aus diesem Ergebnis die Empfehlung ableiten, dass Radfahrer grundsätzlich einen größeren Abstand zum Fahrbahnrand halten sollten, um enge Überholmanöver zu verhindern.
Fazit
Die Mathematik deckte Wirkungen und Zusammenhänge auf, die man mit Radler-Erfahrung gut nachvollziehen kann. Der ADFC bedankt sich bei den Mathegenies für die Durchführung der Datenanalyse!
Download des Berichts der Abstandsmessungen unter www.bodenseekreis.adfc.de/artikel/mehr-abstand-bitte
(Bernhard Glatthaar, 2024)