Mehr Abstand, bitte!
Der ADFC Kreisverband Bodenseekreis führte von September bis November 2021 umfangreiche Messfahrten mit dem OpenBikeSensor (OBS) durch. Dabei wurden von 30 Personen im Bodenseekreis insgesamt 3.643 Überholvorgänge von Kraftfahrzeugen dokumentiert.
Der ADFC Kreisverband Bodenseekreis führte von September bis November 2021 umfangreiche Messfahrten mit dem OpenBikeSensor (OBS) durch. Dabei wurden von 30 Personen im Bodenseekreis insgesamt 3.643 Überholvorgänge von Kraftfahrzeugen dokumentiert. Diese breite Datenbasis ermöglicht grundsätzliche Aussagen zum Überholverhalten von Kraftfahrzeug-Lenkern. Bei der Einzelfallbetrachtung von Straßen wurden Abschnitte mit hinreichend hoher statistischer Abdeckung an Messpunkten ausgewertet. Wissenschaftliche Maßstäbe zu erreichen waren nicht Ziel des Projekts.
Link zum Bericht: OBS-Seitenabstandsmessungen_Bodenseekreis
Weiterer Beitrag: Die Mathematik bringts ans Licht
Wie hier in der Eckenerstraße in Friedrichshafen überholen die meisten Kraftfahrzeuge mit viel zu geringem Abstand.
Messergebnisse im Bodenseekreis innerorts (2713 Messungen, Grafik links) und außerorts (930 Messungen, Grafik rechts)
Ergebnisse
Die Messungen des Überholabstandes von Kraftfahrzeugen zu Radfahrenden mit dem OpenBikeSensor ergaben ein erschreckendes Bild über die Verkehrssicherheit im Bodenseekreis:
Bei den in diesem Projekt gemessenen 3.643 Überholvorgängen wurde in 2.281 Fällen der gesetzlich vorgeschriebene Seitenabstand unterschritten. Somit wurde bei 63 % der Überholvorgänge durch Kraftfahrzeug-Lenker eine Ordnungswidrigkeit begangen. Außerorts, wo in der Regel 100 km/h erlaubt sind, wurde der vorgeschriebene Mindestabstand von 2,0 Meter nur von 17 % der Kraftfahrzeuge eingehalten. Betrachtet man die gemessenen Abstände im Bereich von unter einem Meter, so ist von zahlreichen gravierenden Straßenverkehrsgefährungen durch Kraftfahrzeug-Lenker auszugehen.
Innerorts sind die mehrheitlich zu engen Überholabstände ein großes Hindernis, das Radfahren als tägliche Alternative zum Auto attraktiver zu machen. In den Fahrradklima-Tests des ADFC gehören Konflikte mit Kraftfahrzeugen und die mangelnde Akzeptanz des Radverkehrs im Straßenverkehr zu den meistgenannten Problemen.
Bei den Messungen außerorts stellten sich die Ergebnisse als besonders negativ heraus. Viele Überholvorgänge mit zu geringem Seitenabstand fanden auf Außerortsstraßen statt, bei denen nur ohne Kraftfahrzeug-Gegenverkehr – also bei freier Gegenfahrbahn – ein Überholen des Radverkehrs möglich war. Viele Messungen zeigten, dass von den Kraftfahrzeugen trotz freier Gegenfahrbahn nicht der erforderliche Abstand eingehalten wurde.
Auf schmalen Gemeindeverbindungsstraßen oder auf Kreisstraßen unter fünf Meter Fahrbahnbreite ist außerorts kein regelkonformes Überholen von Radfahrern durch Kraftfahrzeuge möglich. Nur durch ein Ausweichen des Kraftfahrzeugs oder des Radfahrenden auf das Bankett wird der Überholvorgang ermöglicht, wobei im unbefestigten Bankett vorwiegend der Radverkehr das Risiko trägt. Die Messungen ergaben auf diesen Strecken sehr enge, unzulässige Überholabstände.
Der Einfluss von Schutzstreifen auf den Überholabstand konnte in diesem Projekt nicht ermittelt werden. Straßen mit Fahrrad-Schutzstreifen zeigten bei den Abstandsmessungen aber keine Vorteile beim Überholabstand gegenüber Straßen ohne Radverkehrsanlagen.
Es wurden exemplarisch Seitenabstandsmessungen auf Radfahrstreifen durchgeführt. Da Radfahrstreifen rechtlich eigenständige Radwege sind und somit nicht zur Fahrbahn gehören, handelt es sich im juristischen Sinne nicht um „Überholen“ wie bei Schutzstreifen, sondern um „Vorbeifahren“. Deshalb gilt hier die Abstandsregel der StVO nicht. Für Radfahrer macht es aber keinen Unterschied, welche Art der Markierung zum Kraftfahrzeugverkehr vorhanden ist, deshalb ist diese Regelungslücke der Straßenverkehrsordnung nicht nachvollziehbar. Bei der Anlage von Radfahrstreifen ist immer darauf zu achten, dass die Fahrbahn insbesondere für den Schwerverkehr einen ausreichenden Abstand beim Vorbeifahren ermöglicht.
Forderungen
Die überwiegend regelwidrigen Überholvorgänge, welche in diesem Projekt dokumentiert wurden, lassen vermuten, dass fahrlässiges und rücksichtsloses Verhalten sowie Unkenntnis über die geltende Straßenverkehrsordnung der Kraftfahrzeug-Lenker die Ursachen für die zahlreichen unzulässigen Überholabstände sind.
Aus Sicht des ADFC muss deshalb der Fokus auf die Aufklärung der Verkehrsteilnehmer über die Vorschrift der Straßenverkehrsordnung zum Seitenabstand beim Überholen liegen. Der ADFC konnte seit 2021 im Bodenseekreis keine öffentlichkeitswirksame Informationskampagne mit der Zielgruppe der Kraftfahrzeug-Lenker erkennen. Der ADFC fordert die zuständigen Straßenverkehrsbehörden, Polizeidirektionen und die Verkehrswacht auf, diese Problematik aufzugreifen.
Die Ordnungsbehörden und die Polizei, verantwortlich für die Überwachung und Sanktionierung von Verstößen im Straßenverkehr, sind außerdem aufgerufen, die durch dieses Projekt nachgewiesenen flächendeckenden Regelverstöße konsequent zu ahnden.
Da insbesondere auf Gemeindeverbindungsstraßen außerorts mit Fahrbahnbreiten kleiner fünf Meter den meisten Kfz-Lenkern nicht bewusst ist, dass sie beim Überholen den Mindestabstand zu Radfahrern unterschreiten, diese dadurch gefährden und sie einen Punkt in Flensburg riskieren, regt der ADFC an zu prüfen, ob in solchen Abschnitten ein Überholverbot angeordnet werden kann. Die Novelle der Straßenverkehrsordnung von 2020 führte mit dem Verkehrszeichen 277.1 „Verbot des Überholens von einspurigen Fahrzeugen für mehrspurige Kraftfahrzeuge und Krafträder mit Beiwagen“ diese Möglichkeit zur Verbesserung der Verkehrssicherheit des Radverkehrs ein.